Vermisst in Stalingrad –
Christoph Schauer (* 5. Juli 1923 – † nach dem 16. Januar 1943 in Stalingrad)
Tagebuch über seine Rekrutenzeit in Erfurt
Im Vorwort zur ersten Auflage des Buches „Stalingrad – Mythos und Wirklichkeit“ schreiben die Herausgeber Gerd R. Überschär und Wolfram Wette 1992 – ich zitiere wörtlich –
„Die Schlacht von Stalingrad ist für die allermeisten der heute lebenden Deutschen und Russen Geschichte: ein Ereignis, von dem man zwar irgendwann schon einmal etwas gehört hat, das aber eben nicht zur eigenen Biographie gehört, sondern zu jener der Väter- oder gar Großvätergeneration; ein Ereignis, das sie emotional nicht berührt, weil es schon so lange her ist, von dem sie aber mindestens andeutungsweise wissen, dass es mit ihm etwas Besonderes auf sich hat.“
Zwanzig Jahre später ist nicht nur die zeitliche Distanz zu dem damaligen Geschehen größer geworden, das Wissen um die Schuld, die jedem einzelnen Deutschen in der Zeit der faschistischen Diktatur aufgebürdet worden ist, hat die „moralische“ Distanz zu den damaligen Ereignissen und den damals handelnden Menschen erhöht. Sehr schnell wird heutzutage von der „Tätergeneration“ gesprochen und viele jüngere Deutsche sehen das Schicksal der gefallenen, verwundeten und in Gefangenschaft geratenen deutschen Wehrmachtssoldaten als selbst verschuldet, manche sogar als „gerechte Strafe“ an. Ich bin der Überzeugung, die Menschen würden das damalige Geschehen nicht so verkürzt und einseitig beurteilen, wenn sie sich genauer mit der Situation der damaligen Soldaten befassten würden.
Zu den in Stalingrad umgekommenen Soldaten gehört mein Vetter Christoph Schauer. Der wollte Musiker werden, musste aber Soldat werden, wurde in den Krieg geschickt und verlor als 19jähriger sein Leben. Anfang 1942 wurde er zur Wehrmacht eingezogen und musste deshalb am 31. Januar 1942 vorzeitig das Staatliche Archigymnasium zu Soest verlassen. Er erhielt Abgangs – Zeugnis und mit diesem „auf Grund der nachgewiesenen Einberufung zum Wehrdienst gemäß Erlass des Herrn Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung vom 8.9.1939 – E IIIa Nr. 1947, W, RV (b) – die Reife zuerkannt“. Bereits fünf Tage später wurde er in Erfurt Rekrut und zum Panzersoldaten ausgebildet. Nach einem letzten Heimaturlaub musste er am 16.Oktober 1942 an die Front zur 6. Armee abkommandiert. Der Untergang dieser Armee war da schon abzusehen.
Über seine Rekrutenzeit in Erfurt hat er ein Tagebuch geführt, das die Schinderei der jungen Menschen damals eindrucksvoll schildert und so gesehen ein Zeitdokument ist, das zu lesen sich lohnt. Die jungen Menschen von heute sollten sich fragen, was für ein Leben hätte der Tagebuchschreiber vor sich gehabt, wäre er nur wenige Jahre später oder gar heute geboren!
Tagebuchaufzeichnungen des Panzerschützen Schauer vom 21.2. bis 30.9.1942:
Sonnabend 21.2.42
Der Dienst läuft, ob es kalt ist, dass die Knochen zusammen frieren und ob der Schnee fegt, dass man keinen Hund vor die Tür jagen möchte. Sehr schnell merkt man, dass man manches vertragen kann. Man würde gern den Kragen hochschlagen, die Hände in die Taschen stecken – wenn der Befehl kommt, zieht man die Handschuhe aus und übt, bis die Finger keinen Druck mehr spüren und sich nur noch schwer krümmen.
Wir haben uns vielleicht schon manchmal gedacht, dass wir kultivierten Menschen zu den tiefsten Leiden und den schwersten Schmerzen gar nicht mehr fähig sind. Doch wir sollen noch vieles erfahren. Und die Zeit kennt keine Schonung und Rücksicht. Das ist die heutige Zeit, wo wir wieder losgerissen werden von dem Ideal der Humanität als Höchstem. Und wenn auch diese Trennung mit furchtbaren Schmerzen verbunden ist, weil wir scheinbar von einer Höhe wieder heruntergestürzt werden, so ist sie vielleicht doch dafür gut, dass wir wieder zu Gott finden.
Im Dienst erlebe ich manchmal Augenblicke, die mich an tiefere Zusammenhänge erinnern, die mich für Sekunden fühlen lassen, was der Mensch ist. Ich weiß nicht, ob ich es richtig sehe, denn die Zeit meines Soldat – seins beginnt erst. Ich will diese Augenblicke dennoch festhalten, weil ich weiß, dass sich im ersten Kennenlernen viel offenbart.
Sonntag, 22.2.42
und der eisige wind
in scharfen strahlen
peitscht schnee.
und die kälte krallt
sich schritt um schritt
kriecht n die Glieder.
weit liegt das land
so grenzenlos weit –
schritt quält von schritt
der Schnee deckt alles.
wird schwer.
kein leben – nur kälte
und tod und nichts.
ein unbarmherziges lachen
im pfeifenden sturm.
doch:
hier einsam ein klopfendes blut
und die kälte frisst.
–
das blut wird stumpf wie ein tier
und krampft sich zusammen
und schreit
wohin ! – wohin – ?
nur kälte und tod und nichts.
kein baum der ein schirm
kein strauch der ein schutz –
nur starr die schwarzen finger
Die sich biegen und sinnlos sausen.
wo fern über leben ein dach sich duckt ?
hier kälte und tod und nichts
Russland – wollte ich über die Worte schreiben, die ich beim Exerzieren und bei einer Übung auf dem Drosselberg etwas erfahren und meist gedacht habe. Vielleicht ist doch etwas Wahres hineingekommen, obwohl ich beim Aufschreiben nicht allein sein konnte.
Beim Exerzieren, wenn man langsam müde wird, die Kälte immer weiter in den Körper dringt, gibt es Augenblicke der Verlassenheit, fast der Verzweiflung, wo man sagt: wenn ich jetzt nicht wüsste, dass ich in einer Stunde im warmen Raum sitze, wenn ich noch auf Stunden, vielleicht auf Tage diese Kälte ertragen müsste, dann wüsste ich nicht, wohin, dann müsste ich erfrieren. Nicht so, dass man verzagt wird, man reißt oft Witze wie vorher und exerziert befriedigt weiter, aber man fühlt etwas im Unterbewusstsein, etwas großes und furchtbares.
Nur selten sieht man das schöne Bild des Winters, die schneebedeckten Tannen im bräunlichen Schimmer und der gelbe Himmel darüber, sieht die Stadt unten unter Rauch im Schnee oder auch Sonne glitzern, – wenn man die Schulpanzer durchs Gelände brausen sieht, die Ketten im sprühenden Schnee, oder Schützen durch den Schnee rennen und sich hinscheißen, dann weiß man schon: da frieren Leute, mir geht es genau so, und dann sieht man nur noch Schnee unter den Füßen, und man muss laufen, so schnauft man wie ein Walross und möchte nach jedem Schritt kapitulieren.
Dienstag, 24.2.42
Russland – die öde, weite schneebedeckte Fläche und der eisige, stechende Schneesturm. Am Abend ein gelbes Licht über der Ebene die erstarrt und sich schweigend in diese eisige Nacht legt. Welche Größe! Der Mensch, der einsam und so verloren unter diesem Himmel hin kriecht, wie versinkt er in der Endlosigkeit und Verzweiflung! – Und doch sieht er nicht, er fühlt nur den kriechenden Schnee und die stechende Kälte, den keuchenden Atem und sucht krampfhaft, seine kleine Körperwärme zu erhalten.
Auf einem Hof liegt ein abgeschlagener Eimer ohne Boden im Schmutz, der Hof mit dem behelfsmäßigen Brunnen, die dreckigen kleinen Hütten: Die Menschen wissen nichts von der Größe und der gewaltigen Wucht des Himmels unter dem sie leben.
Dieses Land stellt Armeen von ungeheurer Größe auf, baut Panzer und Flugzeuge, Riesenbauten und =Anlagen, die die Welt nie gesehen hat, deren Ausführung sonst unmöglich ist. Und die Arbeiter verrichten stur und gedrückt die Arbeit, Massen, um gewaltige Werke herzustellen, keinem zur Freude.
Warum verbinden wir mit dem Wort „Größe“ immer etwas Edles und Wahrhaftes? Ist die Größe nicht furchtbar? Die Größe, die über den Einzelnen hinweggeht als über ein Mittel – die den Einzelnen erst recht in seine Armseligkeit zurückwirft, ihm sinnlos und herzlos alles raubt, was er nicht ängstlich versteckt. – Aber wir wissen ja: Es gibt die Größe der Kirchen, eines gewaltigen Orgelwerks, die Größe eines Menschen, der in Kleinheit, Armseligkeit lebt. –
Nicht wie die Größe der „Großen“ –
Für sie war alles im Preis
sie sahen das Land nicht an
wozu das Land betrachten
sie waren Staatenbauer
Gebot und Nachfrage war alles
und Tinte in ihren Büchern ..
Als Grazy Horse dort draußen lebte
bei den „schwarzen Hügeln“
war sein Herz erfüllt von der Liebe
die er für das Land hatte
und all das Wild das er gesehen
und die Pferde die er geritten
und wie es vor dir sich dehnte
weit und rein im Sonnenlicht Mac Leish
enn Größe die „Größe“ der “Staatenbauer“ wäre, dann wollte ich sagen: werdet klein!
Aber sie sind klein. Und alle ihre Herdenschafe sind klein, Zwerge, und werden immer kleiner, lüsterner und dümmer.
Und doch gibt es einen Geist des Soldaten. Wir haben immer die Soldatenlieder gesungen und haben uns angefeuert. Aber damals waren wir noch keine Soldaten. Heute, wo wir es sind, singen wir „Edelweiß“, kurz abgerissen, ohne eine Miene zu verziehen, ohne den Text nachzudenken oder gar eine Musik zu fühlen.
Aber wir wissen es heute: die Soldatenlieder leben irgendwie und irgendwo. Und das Feuer, das uns aus den Liedern der entfesselten, die großen Töne des Chores ehis uch njem – ehij uch njem – jeschtscho rasik – ehij uch njem – , sie sind nicht gemachte Weisen, keine Zwangsgesänge.
die Steppe zittert
und es klopfen harte Hufe…
Nein, es ist bei uns nicht alles abgerissen und zerstört. Ich sage mir diese Zeilen auf und wusste wieder, ich bin weiter was ich bin:
lasst euch nicht irren
seht euch nicht um:
lasst springen die Schlingen und schwirren:
die vielen sind feige
die vielen sind dumm
ihr weg ist gewunden
ihr rückgrat ist krumm.
lasst ihr geschrei euch nicht irren!
Mittwoch, 25.2.42
Gestern war wohl so ein Tag, an dem man merkt, dass man im Kommiss ist. Ich wurde herumgejagt von vorne bis hinten. Flurdienst, auch zum Küchendienst schnappte man mich. Abends stundenlang Teller gespült, dann holte mich beim Flurdienst der Leutnant rein, hieß mich Kaffee besorgen, Geschirr waschen, auch auf dem Schießplatz Egstedt (123 Ringe geschossen) hatte ich Pech und bekam nachher Schießscheiben zu tragen. Abends kam ich erst nach der Stubenabnahme zum Fressen, nachdem in der Stube da Licht gelöscht war, konnte ich auf dem Scheißhaus eine Apfelsine essen und den Brief von Hans Köpcke lesen.
Da bekommt man erst einmal Wut und dann Verachtung gegen die Säcke, die hier herumlaufen und sich einbilden, etwas zu sein. Ich habe noch nicht oft eine Empörung empfunden gegen den alten Unsinn, vor dümmlichen Schweinen stramm zu stehen. Ich muss feststellen, dass doch vieles mich erstaunlich wenig berührt. Und hoffentlich geht die Zeit weiter so hin ohne das Gefühl der Stumpfheit oder Verzweiflung.
Es ist mir doch möglich, meinen Blick nach vorne und nicht rückwärts zu richten. Bisher habe ich noch nicht viele sentimentale Anwandlungen bekommen, wo ich an die „schöne Zeit“ hinter mir dachte und wo ich mir Dinge zurückrief, die nun praktisch für mich tot sind.
Heute vor einer Woche, bei unserer ersten Ausführung in die Stadt, setzten wir uns in Rommel – Rommel zu Kaffee und Torte. Zehn junge Sprinter im Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisrock, eng anliegend, saßen da an den Tischen in dem vornehmen Cafe und hörten sich die einschmeichelnde Musik der vier Musiker in schwarzen Fräcken an. An den Wänden die Bilder von schönen Frauen von Holbein usw.; die Lady Hamilton als Diana hing dicht über unserem Tisch. Ein verführerisches Lächeln – unten am Tisch zehn junge Soldaten im Ausgehrock mit hochgeschlossenen Kragen. Man muss lächeln, wenn man so behaglich zurückgelehnt den Zigarettenrauch in den gold schimmernden Raum bläst – gestern jagten wir über die Prärie…“liegen Sie noch nicht auf der Schnauze?“…“Ah – ihr wollt nicht!“… und morgen geht das so weiter. Merkwürdig.. Man empfindet das schon als Besonderes: Musik aus Operetten, Kuchen, Zigaretten, der Anblick anständig angezogener Frauen. Was man bisher als kleine Vergnügung, eine Abweichung von seinem geordneten Arbeitskreis empfand. Bleibt es das aus, dass man denkt: Wir kennen dies alles noch gar nicht. Bald sind wir fertig ausgebildet und kommen in den Einsatz. Werden roh und stur. Morgen exerzieren wir wieder. – Hast Du nicht auch einmal ein schönes Mädchen gesehen? –
Ja, ich habe gelächelt. Denn ich weiß, meine Arbeit, dass, wonach ich mich letztlich zurücksehnen werde, ist fester fundiert als das sie durch diesen Sturm beim ersten Anlauf aus den Angeln gehoben werden könnte. – Das ist keine Romantik: Die beleuchtete Orgelbank, der dunkle gotische Kirchenraum und die Töne, die ich beherrsche.
Ehre sei dir Christe…
Ich brauche nicht aufgehen und mich verströmen in dieser rückschauenden Sentimentalität, dieser todverdammten Romantik. Ich frage auch heute in jeder innerlich freien Minute, wie ich meinen Geist verwirklichen, wie ich meinen Kreis festige und schöpfe auch noch aus dem Geist selbst.
Und der Nachtmarsch am Freitag. Im Schnee, dunkle weiß bedeckte Dämme am Rand, und wir stapfen, Gasmaske, Stahlhelm, Knarre. Immer durch die Nacht. Und Schritt vor Schritt die Knobelbecher über die Schneestraße geschleift, vorne und hinten Kameraden. Zuerst die blöden Lieder gesungen. Und immer weiter geastet. – Da war es mir doch wie etwas seltsam, als mir auf einmal der Anfang des Faust einfiel: habe nun ach, Philosophie, Juristerei und Medizin und leider auch Theologie studiert.
.. und sehe dass wir nichts wissen können.
ach sähst du voller mondenschein
zum letzten mal auf meine pein
den ich so manche mitternacht
an diesem pult herumgewacht.
dann über büchern und papier
drübselger freund, erschienst du mir..
Auch hier scheint der Mond auf der Winterstraße, über die wir marschieren. Aber ich quäle Schritt vor Schritt vorn und hinten Soldaten die von mir nichts wissen, und ich nichts von ihnen. Immer der blöde Alltag und kein Mensch, der einen verstehen könnte. Man denkt: Wie wollte ich den Versuchungen eines jungen Faust standhalten, wenn ich überhaupt erst wieder in einen Kampf Geist gegen Geist käme! Wie kann er sagen:
… dafür ist mir auch alle freud entrissen,
es möchte kein hund so länger leben…?
Wenn wir erst einmal so leben könnten, – wir wollten uns schon unser Reich bauen. Aber wir leben im Stumpfsinn.
Aber das, man weiß es, sind Trotzfragen. Wie spürst du diese Zeilen. Welche Wirklichkeit! – Und: Du lebst heute, jetzt! Werde hart, denn du lebst jetzt!
Der alte Gott der Schlachten ist nicht mehr
Erkrankte Welten fiebern sich zu ende.
schließ aug und ohr für eine weil
von dem getös der zeit.
du heilst es nicht und hast kein heil
als wo dein herz sich’s werkt.
Donnerstag, 26.2.42
Hier lernt man Materialist und Realpolitiker zu werden. Hier ist man allein und muss sich alles feindselig greifen und rauben. Übel war mir zuerst die Fresserei in der Kantine mit der ausgesprochenen Schlacht um die Happen. Aber man wird auch hier so frech, gerissen und gleichgültig, dass man mit vollem Wanst von der Kantine zurückwankt. Und wenn man sich unwohl fühlt, dann weiß man: Niemand wird sich darum kümmern, bestenfalls bekommt man, wenn es schlimmer wird, einen Anschiss. – Wenn man sich abends seine Ration besorgt hat und sich so voll wie möglich gefressen hat, sitzt man faul und fett am Tisch, tut gar nichts oder raucht eine Muke(?) voll. Bis man wieder aufgescheucht wird. Jede Minute, die übrig bleibt, kommt man in Versuchung, in nichts – tun und nichts – denken zu verfaulen. Ganz egal, ob man unmittelbar nachher die tollsten Sachen reißen soll. Stur – wie ein Panzer.
Was für ein zusammen gewürfelter Landsknechtshaufen sind wir doch! Es müssen hier wohl alle Teile Deutschlands vertreten sein. Wie freut man sich, wenn man eine wohlbekannte Mundart hört. Manchmal ein Pommer oder auch en Ostpreuße! Die Thüringer scheinen ein manchmal großschnäutziges Volk zu sein. Die guten Jungens vom Main! Und erst ein gemütlicher Kölner mit seiner humorvollen Sprache. Die Lausitzer gurgeln so bekannt und die aus Böhmen sind auch vertraut.
Aber hier merkt man, wie bloß die Gegenwart eines anständigen Menschen einen stärkt. Wie freue ich mich immer, wenn ich so ein paar Gesichter aus der Kompanie sehe, denen man ihre Anständigkeit ansieht und anfühlt. „Und ihr kennt die mit geburten an der augen wahrer glut“…Einer von ihnen erinnert mich immer an Weia. Welche Freude, wenn man mal beim Fraß neben ihnen sitzt, oder in der Schlange mit ihnen zusammen flucht. Man fragt dann wohl: „auf welcher Stube liegst Du?“ – „ach, auf 76, da habt Ihr ja ein tolles Arschloch als Stubengefreiten.“ Und man hat den lichten Blick für den Tag mitgenommen.
Montag, am 9.3.42
Und manchmal, in einer stillen, wenig gehetzten Minute, oder auf einem der Märsche durch die weite Winterlandschaft, da denkt man: ich bin Soldat. Und zu Hause sind viele, die an einen denken, die auch um einen sorgen und lieb haben. Bald sind wir fertig ausgebildet, wir werden dann kämpfen. Wer weiß –
Und man summt manchmal kein schönrer tod ist in der welt, als vom feind erschlagen.
Wir werden dann marschieren, und viele denken an mich.
Doch dann kommt es vor, dass ich auf einmal wehmütig werde, oder so ein trauriges Gefühl, ein Schmerz, wo plötzlich das Wasser bis obenhin steigt. Und ein kleiner Gedanke: Du musst doch noch Orgelspielen. – Du hast ja so viel noch kaum kennen gelernt. Weißt du denn überhaupt, was Mädchen sind und wie man sie liebt? – Nein, ich weiß es noch nicht. Ich habe nichts eigentlich zu bereuen. Meine letzte Zeit zu Hause hatte keinen Platz für Mädchen. Kein Damenfest – ja, in meinem Leben noch kein Kuss.
Doch dann lächle ich doch und weiß wieder: ich habe es nie gewollt. Ich habe mein Leben kaum anders gewünscht. Mein Leben ist da noch unangetastet. Ich brauche keine Blumen ausrupfen, ich durfte viele Blumen hüten. Wieviel durfte ich bewahren! Ich habe so viel Liebe erfahren und spüre täglich im Übermaß.
Montag, 16.3.42
Heute 3 Stunden exerzieren im knöcheltiefen Schneeschlamm.-
As erste, was ich von unserem Zugführer hörte als er eingeführt worden war. Stillgestanden! – Hinlegen!! Mit eine Stimme, die durch Mark und Bein ging. Wenn Bölter vor der Front steht, dann zittern manche etwas, aber er ist doch ein Mann, für den man sich einsetzen könnte.
Vor einer Woche führte er die Kompanie nach Egstedt zum Schießen. Schon hier oben hinter der Kaserne befahl er: Es kann geraucht werden. – Die Kompanie zog in langer Reih über den Drosselberg. Noch lag der Schnee und die Kälte war auch noch da. Aber dann ging die Sonne auf. Ein hellblauer Himmel über der glitzernden Fläche. Vorn zogen die ersten, an der Spitze der Oberfeld, über die Höhe, und wurden von den gelben Strahlen getroffen. Und weiter der Marsch im Glitzern und Leuchten.
Auf dem MG-Stand befahl der Oberfeld: alles links in den Schnee legen, Stahlhelm ab – da lagen wir wie in einer Sommerfrische, ließen uns von der Sonne bescheinen. Da schließt man die Augen und denkt an was Schönes, an die erste Liebe, an Sonnentage, an das Meer und anderen Unsinn. Da lebt man ohne Verantwortung, ohne Weiterdenken, nur dem kurzen Augenblick.
Oft erlebe ich in letzter Zeit diese Augenblicke der gänzlichen Erinnerung, der stillen Freude. Im Unterrichtssaal einen Morgen, an der Wand des Nebenblocks die Morgensonne. – Da sah ich unser kleines Vororthaus in Stettin. Ein Sonntagvormittag, wo die Straße unter den Ulmen still in der Frühsonne lag, wir drei Kleinen gingen mit den Eltern zur Kirche – der schöne Weg (so scheint es mir durch die Straßen der Vorstadt, Asphalt und die fragend klappenden Fenster. Dann spielen wir im Garten und sind traurig, dass es Abend wird. (Wie oft haben wir Soldat gespielt!)
Und an Norwegen. – Wie die strahlende Sonne und die leichten Wolkenschatten über die Schneefläche glitten beim Rückmarsch von Egstedt. Da dachte ich daran, wie das Motorboot damals zwischen den Schären der Südküste dahin fuhr, leicht Spritzer krannen über – die Sonne und der Seewind und hinaus in den Fjord, vorn ragt die schmale Halbinsel Hoverskov mit verkrüppelten Kiefern vor. Und dann der Horizont – und die schweren wiegenden Wellen. Kleine Häuschen am Fels, bunt und mit Fahnen, die Leuchttürme auf Lille und Store Torungen.
Man darf nicht weiter denken – nicht an alles – nicht an die lieben Menschen. Dann wird es zu viel.
Auf der Stube sind so kindische Leute, was gibt es doch für dummes Volk! Aber nichts gegen die kühlen Brüder, die nicht viel sagen und manchmal grinsen. Und es gibt auch solche, mit denen man manchmal spricht. – Über Kunst mit Artur gestern. Man kommt sich schwer näher, man muss sich wieder zurückversetzen und auf fremde Blicke eingehen.
Und heute war ich mit Freddy beim Zahnarzt, im Kaffee, im Haus Vaterland. Ein zackiger Kamerad, kennt sich in tollen englischen Sachen aus, im Jazz. Man spricht gern mit zackigen Kameraden, auch über Kommis, dass wir hoffentlich bald raus kommen an die Front.
Sonntag. 22.3.42
Damals, als wir einmal nach Egstedt rückten, sah ich zum ersten Mal unter dem Schnee einen abgetauten braunen Fleck. Welche Freude! Welcher Lichtblick nach der öden weißen und kalten Zeit. Das Herz freute sich wirklich, wenn man sich sagte: bald liegen wir im Dreck, schmeißen uns in Pfützen. – So ist es auch gekommen. Vor drei Tagen schien morgens die Sonne – schön. Und der Schnee lag nur noch in langen verhärteten Streifen über den Drosselberg weg. Da marschierten wir dann die Straße hinauf, legten uns in den flüssigen Schlamm, oben in die Pfützen des Schneewassers. Doch welche Freude! – Die Gruppen von Feldgrauen standen im Gelände wie damals im Schnee –doch nun auf dem olivgrünen und braunen Feld auf das die Sonne schien und oben hörte ich eine Lerche und der Schnee wich langsam, das Wasser floss in breiten Bächen den Berg hinab.
Hier als Soldat merkt man, wie sich ein Frühling und Sonne anfühlt. Da haben wir gehungert nach einem Fleck brauner Erde, nach einem Sonnenstrahl. Und nun ist Frühling.
Sonnabend, 28.3.42
Jetzt neigen sich die berüchtigten ersten acht Wochen dem Ende zu, wir werden Soldaten und kennen bald in den ganzen Kram, und drücken können wir uns auch. Gestern den Nachmittag habe ich wieder fabelhaft rumgekriegt. Bei den Vorbereitungen zum Tag der Wehrmacht holte ich Tannengrün. Da lag ich eine halbe Stunde im noch bleichen Gras, in der Sonne, links hinten die Kaserne und unter mir die Stadt mit ihrem Lärm im Dunst. Weiße Wolken von Schornsteinen und der Dampf fahrender Züge. Dahinter wieder ganz matt Berge und Hügel. Vor zwei Jahren im Sommer war ich hier auf der Fahrt mit Theo und Claus – hier oben in der Kaserne haben wir Ernst – Friedrich besucht. Und dann fuhren wir weiter die Straße nach Egstedt hinauf, vorher rechts ab. Dann marschierten wir weiter nach links zum Schießen. Ich erinnere mich noch wie wir damals in der Sonne die Reichsstr. Weiterfuhren, noch immer in Gedanken bei Heia und Ernst – Friedrich, den Rekruten; einige Illusionen waren uns wieder genommen. Und die Straße durch Arnstadt zum Thüringer Wald. – Ich bin doch bescheiden geworden, wie ein Festtag ist eine halbe Stunde in der Sonne, ohne Erlaubnis und Befehl.
Als ich auf der Stube rumfaulenzte mit Artur, der fußkrank war, kam der Korporal. Wir sprachen zusammen. Im Zivilberuf ist er Förster, jetzt auch schon ein Jahr dabei, alle Feldzüge mitgemacht, abgebrüht und in Ordnung. Ja, wir fingen an mit den bekannten Worten – Scheiße Mist. – „Früher, Herr Unteroffizier, hätte ich bei solchen Wetter im Gelände gesessen und ein Aquarell gemalt; – in ein paar Wochen liegen wir im Dreck und unsere werten Eltern haben uns nicht einmal im Urlaub gesehen.“ So fing das an, und zuletzt sprachen wir über die Normierung des Menschen, über „Heute“. – „Was machen sie denn heute mit den kleinen Bengels, die ins Jungvolk kommen, – alles soll einheitsmäßig werden, keiner was anderes denken und tun“ sagte der Korporal. „Ja, das ist das System des Bolschewismus“ (ich). Wir sprachen über den Krieg, der Korporal meinte zuerst, der Krieg sei auch eine Bewährung der Völker. Ich: „Ich kann das nicht glauben, die besten fallen doch, das Niedrigste und Gemeine im Volk kommt hoch, und die Vernichtungen sind fürchterlich.“ Der Korporal stimmte bei: „Wenn man nur an Erfurt denkt, diese Weiber…“
Wir haben ein großes Geschenk, dass wir die frohe Botschaft haben, dass wir die Worte wie „Untergang des Abendlandes“ aussprechen können ohne dabei zu verzweifeln. Dass wie wissen, dass Christus diese mathematische Kausalität, nach der das Volk untergehen muss, durchbrochen hat. Dass am Ende nicht der Tod, sondern das Leben steht.
Unsere Gewissheit ist uns ein Halt, ganz anders als wir es gedacht hatten Manchmal fragt einer vielleicht aus einer trüben Stimmung heraus, oder einer klaren Minute, „warum“? Man sagt dann, was man muss, der Kamerad denkt dann manchmal nach, oder er verkriecht sich wieder… es ist ja doch alles Scheiße.
Die Gespräche und die lichten Minuten mit Artur Schulmeyer werde ich nicht vergessen können. Zu den ersten Berührungen gehörte es wohl, dass ich ihm auf der Quetsche ein Thema von Bach vorspielte und er sagte: „Das ist Musik! Was ich die ganze Zeit gespielt habe, war Mist.“ Nur wenig haben wir gesagt, ich wies ihn auf das „warum“. „Weil es mir gefällt, ich kann das nicht beschreiben“. Und dann kamen wir etwas weiter, dass nicht wir, unser Geschmack der Maßstab ist; an einem Bild klärten wir die Frage Kitsch oder Kunst. Ich konnte nur auf das Höhere hinweisen, nur schwach und schlecht. Artur sagte zuletzt: „ja, ich bin oberflächlich…“ Manchmal, wenn er einen von den tollen Schlagern spielt, hört er auf und sieht herüber, dann sagt er wohl: ich kann ja nichts anders.“ Und wir unterhalten uns kurz über alte Instrumente, Cembalo, Clavicord und mein Orgel, und er hört zu. Die „denksteine“ habe ich ihm gezeigt, abends einmal ein Gedicht aufgesagt, Worte von Lao-Tse, Stefan George, im Bett, während die Kameraden schliefen. – Artur kommt aus einer „anderen Welt“, wo man filmt und Schlager spielt. Und auch das kann scheinbar Heimat werden, nicht dem Haufen Säcke, die herumstehen und mitwanken im Rhythmus und gröhlen. Aber er kann manchmal über den Jazzbesen versunken sitzen und einen ganz merkwürdig sentimentalen Schlager begleiten und auch der Kamerad an der Quetsche blickt trüber. Ich habe eine Aufnahme aus Arturs Zivilleben gesehen. Wir verstehen dies nicht, aber vielleicht steckt doch in manchem etwas, was über die allgemeine Unwirklichkeit und Sicherheit dieser Sachen hinweggeht.
28.3.42
Der Dezember braust vorüber.
Januar und Februar
Wandern übers Feld in trüber
Winterstarre und Gefahr.
Aber lebend im Geheimen
regt die Saat sich sehnsuchtsblind,
und die schwachen Halme keimen
durch den Schnee und wehn im Wind.
(Hausmann)
was auch die Seele ersinnt, nie übernimmt sie die
Angst,
und das Gedachte erlischt wie die rötlich verglimmende
Leuchtspur,
die durch die Dämmerung eilt, eines gefallenen
Sterns.
(Hausmann)
Sie ist es, die manchmal unser Bild antasten will, die Angst, die die jungen Rekruten in den ersten Wochen so häufig drückt. Und sie ist es unter der Gasmaske, wenn man wüst läuft und man kriegt dann keine Luft mehr. Es war der Druck der ersten Wochen, wo bei den ganz Jungen so viel zerbrach.
Und Angst hält ja den ganzen Kram zusammen, ganz banale, stinkende Angst den Kram, ein tolles Verbrechermanöver. „Beschiss“ sagt man und meint hinterher es müsse doch so sein und das alles sei nun ein notwendiges Übel. Jedesmal, wenn man bei einem von diesen Leuten so weit ist beim „warum“, dann mit Sicherheit kommt das bekannte „…doch alles Mist..“ das Verkriechen wieder in die alte gewohnte Blindheit, in die selbstverständliche Kette von Sinnlosigkeit und Rausch.
(ich habe hier noch viel schreiben wollen, ich bekam Fieber und fuhr dann auf Urlaub nach Sonneborn)
Ostern
tief in die blaue kuppel
des himmels stossen die pfeile
rote wolkenstreifen
und gelblich schimmert der rand
mit grünem fragendem leuchten
der schnee trinkt die satten farben
und lachen des tauenden wassers
grün und zag und träge.
zweige entlaubter bäume
tasten wie scheu in den morgen
die kolonne de kameraden
marschiert ich seh die rücken
und höre den gleichklang der tritte
ich schleppe die schweren stiefel
weit weg kaum spürbar die heimat
spricht hier leise die ferne
die immer ersehnt und gesucht?
der nie gesehene morgen
die nie entdeckten farben
der gleichtritt der truppe zieht weiter
mühsame schritte der stiefel.
und die sonne geht auf und giesst
gold auf das schweigende land.
doch sie blickt mich nicht an –
sieht über mich hin.
und ich kann die ferne nicht atmen.
die graue kolonne marschiert.
auf der schulterklappe die zahl
ich bin nicht mehr Ich – wir marschieren
waffe – kolonne – heer
wirst kämpfen, wirst schiessen, wenn der befehl kommt;
in ein auge – nicht nur du hast eine mutter.
rennst vor in der kolonne
siehst die blumen nicht die du zertrampelst,
ohne zu fragen – wie auch die kameraden –
denke doch nicht, dass du mal zurückkommen köntest –
du erträgst kälte und schweiss und schiesst.
Ach, das ginge so weiter.
19.4.42
(Alles bleibt unabgeschlossen. Ich habe die ungeordneten Gedanken in Sonneborn auf Urlaub aufgeschrieben, doch ich war nicht gesund und da bringt man nichts klares hin. Am Sonntag nach dem Urlaub kam Mutter und Alla nach Erfurt. Ich konnte es so hinbringen, dass ich Freitag ein paar Stunden, Sonnabend bis 24 Uhr und den ganzen Sonntag mit ihnen zusammen war.)
Am Sonnabend bevor ich zu Mutter ins Hotel Kossenhaschen ging, war ich beim Nachschwenken. Es war ein übles Flachrennen, nicht wie sonst auf dem Exerzierplatz, sondern über den Drosselberg, gerannt durch die Schluchten und Hänge, wie wahnsinnig, immer unter der Gasmaske. Die Panzerversuchsbahn rauf und runter, eine halbe Stunde länger als sonst. Es war schon wüst. Auch an diesem Sonnabend war ich wieder dabei.
In der Nacht zum Freitag, bevor Mutter kam, stieg noch ein Nachtmarsch von 45km. Es gab wenige, die den Dienst danach ganz weiter mitgemacht haben, auch ich hatte eine Blase. Am Freitag humpelte die Kompanie, das heißt von 150 Mann etwa 40, zum Exerzierplatz rauf. Ich immer dabei, denn Mutter kam ja.
Neue Rekruten sind angekommen im Nebenblock. Der Stamm unserer Kp. und viele Gefr. Uffz. Feldwebel sind zur Marscheinheit gekommen, die auch hier oben liegt. Alles in schwarz, bald hauen sie ab. Die Kompanie bleibt auch wohl nicht mehr lange beisammen; aber ich bleibe vielleicht noch hier im KOB – Lehrgang. Viel Unruhe im Betrieb. Wir sind nun alle Soldaten und bald keine Rekruten mehr.
Wie oft sieht man Dinge, spürt man Augenblicke, die noch nie erlebt worden sind, die man wie ein erster Mensch entdeckt. Besonders die Morgen, die man auf Nachtmärschen erlebt. Das merkwürdige fahle Dämmern, das Verblassen der Sterne, die tastenden Farben, die hinter den Bäumen aufsteigen.
Bei der Gefechtsübung am Sonnabend, wo wir (zwecks Besichtigung der bisherigen KOBs) einen Angriff mit aufgesetzten Seitengewehr liefen und dann im Feuer zusammenstürzen mussten, hatten wir Zeit, wohl eine Stunde auf dem noch kalten Boden zu liegen. Ich lag unter einem kahlen Baum, die Sonne lag auf den dünnen, schon lebenden Zweigen und darüber einfach blauer Himmel. Ich lag darunter und sah in die Höhe. – Und dann wieder er olivgrüne Rasen, im blauen Dunst Hügel und Wälder darauf.
Das alles möchte ich malen, und ich kann nicht – das ist ein Schmerz. Vielleicht einer der schwersten und anhaltensten.
Oft erinnert man sich bei einer Landschaft oder Gruppe an einen Maler (wie oft an CD Friedrich!) – wider Willen, denn ich will das selbst erleben, nicht nach Vorschrift, ich glaubte, diese Gemälde nachzusuchen in der Wirklichkeit sei Unsinn -, doch dann spürt man, dass in dem Gemälde noch etwas liegt. Die Beziehung des Malers zu der Natur. Dies Leben, das erst geworden ist durch die Begegnung von dem Menschen und der Natur. Da fühlt man, dass man auch selbst so ein Gespräch mit der großen Mutter führt, mit eigen Worten, zaghaft vorgetastet und gesucht.
Wenige sehen ja alles dies – keiner der Kameraden, die in derselben Uniform im gleichen Schritt mit dir gehen. Du allein erweckst da das Leben, die Welt, die erst durch die Beziehung von Mensch und der Natur wird.
„Die Welt“ – das sind nicht die Dinge draußen für sich allein genommen, sondern das, was in der Begegnung zwischen Menschen und ihnen wird. Wenn der Mensch die Dinge sieht, empfindet, ermisst, wenn sie an ihn herankommen und in ihn hinein und er wiederum in die Dinge dringt, in ihnen weilt und lebt – was sich da hervorhebt, das erst ist die eigentliche Welt (Guardini).
(Wie auch oft sonst fand ich dieses Wort vor, als ich das erfahren hatte.)
Man wird ja zur Sau, wenn man wie so oft an zu Hause denkt, an die Stunden auf dem Zimmer, das Kloster in der Sonne, der Möhnsee; oder an Fahrten, an liebe Menschen. Und man glaubt, das, was man dann wünscht und ersehnt, sei wichtiger als alles andere. Kaum habe ich in einem Tagebuch die wahre Gegenwart gesehen und richtig erkannt. Aber das ist scheinbar nicht möglich, später wird mir alles klar werden, ich werde auch diese Zeit tatsächlich darstellen können.
Das, was ich jetzt schreiben möchte, ist meine alte Novelle, mit dem Schloss in der Sonne und dem Park davor. Ich komme auf Urlaub in schwarz, und das Mädchen, die Tochter (das unbekannte Mädchen, die Tochter der Bekannte, die ich besuche) sitzt in einem hellen Kleid vor dem Schloss und liest, dann sieht sie mich und führt mich herein. Am Mittagstisch mit ihren Eltern essen wir sehr kultiviert. Ich spreche die Nacht durch mit dem Vater am Kamin, es war ein etwas ergrauter, aber kerniger, fabelhafter Mensch. Am anderen Morgen saßen wir (das Mädchen und ich) am plätschernden Brunnen, dann gingen wir durch den Park, auch ganz außen durch die wilden Winkel, über einen Graben. Aber nachmittags spielte ich ihr auf dem Cembalo etwas vor, sie begleitete mich auch einmal, als ich Flöte spielte. Die Eltern waren nicht mehr da, und in der Dämmerung spielte ich noch und musste dann wieder gehen, sie brachte mich bis zur Gartentür, dann ging sie sogar noch bis zu dem kleinen Bahnhof mit. Sie gab mir die Hand, ich fahr weg, an die Front natürlich.
Sind das nicht kindische und doch so schöne Gedanken für Kommiss? Denn wir bekommen nie Urlaub, wir sehen niemals mehr Kultur, zu Hause arbeitet Mutter mehr als sie aushält.
23.4.42
und nachts und ferner fahren; denn der train
des ganzen Heeres zog am park vorüber.
Er aber hob den blick vom Clavecin
Und spielte noch und sah zu ihr hinüber
Beinah, wie man in einen Spiegel schaut:
so sehr erfüllt von seinen jungen Zügen
und wissend, wie sie seine trauer trügen,
schön und verführnder bei jedem laut.
Doch plötzlich wars, als ob sich das verwische:
sie stand wie mühsam in der Fensternische
und hielt des Herzens drängendes Geklopf.
sein spiel gab nach. von draußen wehte frische
und seltsam fremd stand auf dem spiegeltische
der schwarze tschako mit dem totenkopf.
Heut waren wir im Kino „der große König“; nichts zu sagen über diese Art der bekannten neuen üblen Tendenzfilme. Eine Stelle war wieder da, die mich an eignes erinnerte – der König saß in der Nacht am Bett seines Neffen (?), der ihm ins Feldlager nachgereist war; da zog der König aus der Tasche des Prinzen – Sophokles. Und da zeigte der Film, wie der Schatten des Königs durch Schloss Sanssouci ging, an den Bücherschrank, der König stand im kerzenerleuchteten Saal, spielte Flöte, – alle Dinge, die für ihn versunken waren.
Ist es bei mir denn so, dass ich die wahre Wirklichkeit nicht sehe? Habe ich mich noch nicht „durchgerungen“, kann ich nicht „entsagen“? – Aber für mich sind die Dinge, die ich getrieben habe, nicht bloß Freizeitbeschäftigung und Entspannung. Das, was mir Aufgabe und Inhalt gab, habe ich doch damals immer außerhalb der Schule, immer außerhalb der „Pflichten“ getrieben; immer stand ich etwas außen und konnte darum auch so viel Kritik treiben, ohne dass ich in Erbitterung stehen blieb. Und auch hier nun gehört das alles nicht zu meinen Pflichten. – Ich habe mir schon Bücher besorgt, ein fabelhaftes Buch über Barlach. – Doch ich meine, ich werde wirklich sein dabei. Vielleicht wirklicher als die anderen, die Offiziere von Leib und Seele. Und dann: Ich denke ja nicht daran, die Konsequenzen des blöden Films, die gewohnten Denkbahnen der verfaulten Penne, der alten Preußen nachzustapfen. Wenn wir nicht das bisschen Mut haben, diese Lüge von Pflicht und Ehre und Staat abzuschütteln und unsere Wahrheit dagegenzusetzen, wer dann? So manches denkt man sich, wir haben schießen gelernt… wir können mit MG und Karabiner und MPs umgehen; und uns ist vieles egal geworden, man hat uns schon so viel zerschlagen…
Barlach ist doch der Mann, der einen Weg zeigt. In der Beschreibung zeigten sich mir viele Verbindungen
das Streben nach Ganzheit bei George und in der bündischen Jugend – Russland – und der Glaube.
Ein Absatz:
„Eine Reise nach Russland bringt ihm dann die endgültige Befestigung seiner Kunst. Diese Reise ist irgendwie in ein Geheimnis getaucht. Barlach spürt in Russland eine seltsame Anziehung zu dieser unendlich weiten Landschaft und ihren Menschen. Alles erscheint ihm hier in einem gesteigerten Sinn ohne maßen wirklich! „Das ist außen wie innen“, ist sein elementarer Eindruck. So müsste man schaffen, fühlt er, müsste Gestalten bilden, die so ganz „außen wie innen, innen wie außen“ sind. Eine unermessliche Schaffenskraft überfällt ihn plötzlich. Er kehrt zurück mit zahlreichen Zeichnungen und Entwürfen. Gleichzeitig ist sein Geist voll künstlerischer Pläne, die gestaltet werden wollen.“
29.4.42
Augenblicklich scheints hier schwer im Karton zu stinken. Der Spieß an erster Stelle, ihm folgend die Korporäle versuchen, einem die angebliche Sturheit auszutreiben. Spinde werden ausgeräumt, anschließend Spindappell, Flachrennen stehen bevor; ich habe Sonntagsurlaub nach Mühlhausen beantragt, der wird wohl gestrichen werden. – Wieder die alte Unruhe. Doch was kann einen das erschüttern? Ich lese in den freien Minuten und sonst versuche ich eben zu denken.
18.5.42
Schon war ich in Schwarz eingekleidet, alle Sachen in die Bekleidungssäcke verpackt, zwei Nächte auf abgezogenem Strohsack geschlafen, Mantel übergedeckt, durch die Stadt gezogen und mich verabschiedet, – am Tag als die Kompanie nachher abrückte hieß es: Schauer links raus! – KOB! Und da bin ich wieder gelandet, trotz Fluchens (man kann nichts dagegen machen), habe Schwarz abgegeben und mache weiter. Vielleicht ist es gut. Mutter war da am Sonntag, wir gingen in die Kirche und anschließend zum Abendmahl. Heia schrieb davon, dass Klaus R. im KZ sitzt – ein fürchterlicher Gedanke. Und wie sieht es zu Hause aus? Bei Heia noch viel schlimmer als bei uns. Ich lebe hier einen guten Tag, komme nicht einmal an die Front vor einem Vierteljahr.
Viel habe ich gelesen und erlebt. Alles in der Einheit, wie ich sie gesucht habe, in einer merkwürdigen Einheit.
Schon gleich als ich hierher kam und die Kiefern am Hang vor der Kaserne wieder sah, waren sie mir heimatlich, d. h. nicht heimatlich sondern gerade vertraut als Zeichen der Ferne, vertraut von Fahrten in die Heide, an das Meer. Und ich sah die Sonne hinter den Kiefern untergehen, sah den roten Streifen hinter den dunklen Stämmen; und die Kiefern im Morgendunst; und wenn wir vom Drosselberg zurück kommen, biegen um die Kasernenecke, dann liegen sie dunkelgrün in der Sonne, hellbraun die Stämme, unten, tief die Stadt mit den vielen Kirchen. Streife ich an eine Kiefer bei der Geländeausbildung, dann spricht sie wieder viel zu mir und lässt mich das alles wieder fühlen. Wenn ich im Gras liege, dann denke ich an Pütte, die Zeit als Junge auf dem Lande. Wir lagen im Gras und sahen durch Butterblumen und Gräser und Weiden den blauen Himmel und die großen Wolken.
23.5.42
Wir zogen durch die Wiesen und Sümpfe, wir schwammen mit dem Binsenboot über den See, kletterten auf die Bäume und holten uns in den Gräben nasse Füße. – Und riecht es irgendwo nach Teer oder Benzin, dann ist es wieder die See, die ruft, Häfen und Schiffe, der dauernde Teer- und Seegeruch, die Fahrten im Motorboot in Norwegen, das Stampfen der Schiffsmaschine und der heiße Benzindunst, der aus den Lüftungsluken des Maschinenraums aufsteigt. Tolle Fahrten mit Ernst-Friedrich auf dem Motorrad. – Es ist um Kotzen. Nicht zu viel daran denken. Wer will das alles beschreiben? –
Vorgestern war ich mit ein paar Knaben Boot fahr. In Erfurt – Nord hatten wir Panne. Ich zog in der Gegend rum und organisierte Brötchen, Kuchen, Zigaretten und Drops. In der Nähe war eine Anlage. Dort saßen wir auf einer Bank unter Flieder. Und alle brachen sich einen kleinen Zweig ab und hielten ihn unter die Nase; es kam mir da wieder so viel in Erinnerung, sogar Ostpreußen, die ersten vier Lebensjahre.
Es ist so: alle Dinge, die mir vertraut sind aus der Kindheit, aus der unbewussten und schönen Vergangenheit, haben ein besonderes Leben. Aber ist dies denn wirkliches „leben“? Ich meine ja, diese vertrauten Dinge fast körperlich zu empfinden; ist es denn die falsche Romantik, das Leben in der Vergangenheit?
Das Ungewusste ist quellende Kraft..
Ja, es war alles ungewusst, als es noch wirklich war. –
Aber lebe ich denn überhaupt noch unbewusst? Und man sieht eigentlich nur Vergangenes, ein richtiges Bild über die Gegenwart bildet sich nicht. (klar sieht, wer von ferne sieht und nebelhaft, wer Anteil nimmt).
Die Gedichte, die ich habe von Rilke und George und die denksteine, sind vielleicht auch alle rückschauend, d. h. schon unwirklich, romantisch (obwohl sich gerade George in klarer Sicht gegen die Romantik wehrt). Auch ich würde solche Gedichte schreiben.
Über meine Kirchenmusik konnte ich kein Gedicht schreiben. Als ich vor vielleicht drei Jahren auf der Höhe der Bachverehrung stand, hätte ich alle diese Gedichte abgelehnt. Die Realität der Kirchenmusik ist je so klar. Durch Malen mag angezeigt werden das Leiden Christi (Dürer) – die Kunst hat letztlich und eigentlich diese Aufgabe. Und die Kirchenmusik erfüllt sie in der großen Entwicklung bis Bach, in der einzigartigen Ordnung von Geist und Leib. Wie abwegig und in der Entwicklung verfehlt erschien alles Folgende, über Beethoven zu Wagner und zu noch schlimmeren. Und ich kann nicht behaupten, dass ich falsch gesehen hab, wenn ich jetzt auch anderes sehe. Und vielleicht muss ich es bedauern, dass ich dies andere sehe. Ich bin dadurch erschüttert und kann nicht mehr der Radikalist sein, der ich so gern wäre.
Über Pfingsten habe ich zweimal Wache bekommen, so konnte ich ein wenig aufschreiben.
Vorgestern saßen wir zu dreien oben bei den Fahrzeughallen in der Abendsonne und sangen die alten Schlager .. schliess eng und der – zweistimmige Chor mal wieder, … die Steppe zittert, wir wollen zu land ausfahren. – Lasst euch nicht irren.
Mit Pithan sprach ich am Tage zuvor über alte Erlebnisse. Ihn habe ich auch kurz „entdeckt“, den alten MD=er. Mit Artur sprach ich gestern über die Revolution. Er fährt in Urlaub, als einziger aus der Stube – nach Hause, wir haben Wache. Er sagt, ich habe ihm den Urlaub verleidet. Es waren tolle Worte, die wir wagten.
Zweiten Pfingsttag
Wieder Wache und morgen wieder. Man kann viel sehen aber auch viel fluchen, wenn man die zwei Stunden schiebt. Ich hatte Wache zwischen den Fahrzeughallen, da konnte ich ungestört die Sonne untergehen sehen.
Ich kann ja nicht malen hier beim Kommiss; die Spritze hängt am rechten Ast und drückt; die Stiefel passen nicht und die Gasmaske erscheint überflüssig. So ziehe ich Wache und weiß doch: auch ich gehöre hier hin. Meine Führung ist besser als mein Wille(Gottes Führung).
Ich durfte es nicht malen:
wie von inne leuchtet der himmel
im rotumrandeten raum
über schwarzen kiefern
die stämme glühen noch einmal
erschauern schlank hinauf
die sträucher schweigen
bühle geht über wiesen
fern schon nebelschwaden.
von oben wölbt sich der himmel dunkel
der halbe mond hat ein kaltes lächeln.
nur dicht am berg die erschrockene wand
mit großen fragenden fenstern,
sie trinkt noch das licht und wirft es zurück
und weiss dass von hinten die finstere nacht
sie bald wird ergreifen
nichts, das hält
die glut versinkt
die wand erbleicht
verschliesst sich,
schweigt.
ein zittern –
ein kalter hauch.
auch die wiese fragt,
nur die schwarzen trauernden kiefern
wissen und trösten
Wir haben hier keine bleibende Stadt
sondern die zukünftige suchen wir.
29.5.42
Der KOB = Lehrgang hat begonnen mit Fahrschule. Wir fuhren mit dem LKW zwischen den Fahrzeughallen herum, am Nachmittag eine weitere Strecke über Arnstadt nach Crawinkel. Es waren etwa 30km auf der alten Strecke, die ich vor zwei Jahren im Sommer befahren habe. die Fahrt mit Theo und Klaus. – Jeder Augenblick wird wieder lebendig Die breite Straße aus Erfurt heraus im Bogen bergauf mit den hohen Laubbäumen zu beiden Seiten hallt noch genau so merkwürdig hohl vom Motorengeräusch. Dann führte die gerade Straße ein paar Mal bergauf und bergab – ohne Bäume an den Seiten –unter der Reichsautobahnüberführung durch. Und dann durch die Dörfer, die Berge steige an den Seiten auf, die Kanten steil und schroff mit nacktem Stein. Da steht bei einer Talbiegung ein Turm oben auf dem Berg. Dann war da die Stelle, wo wir fraßen und das Schild an der Waldecke stand: „Wer diesen Wald beschmutzt, entehrt, ist seiner Lieblichkeit nicht wert.“ Wie hatten wir darüber gespottet. Dann ging der Weg weiter, trat aus dem Wald heraus und führte auf den Thüringer Wald zu.
3.6.42
Und gestern fuhren wir Nachtfahrt, dieselbe Strecke am Abend. In der Abendsonne hielten wir oben und sahen über das Land mit den Hügelketten bis zum Horizont. Hier hielten wir aus – (weiter unten kam uns die Frau entgegen, die eine Reisigfuhre bergab schleifte). Und die tolle Abfahrt nach Zella-Melis. Hier kehrten wir nach einer halben Stunde wieder um. Pit und ich saßen in der Pause am Wege im Ort und sahen den großen Kamm, hinter dem die Sonne verschwunden war. – Da waren wir hinübergefahren, noch weit… Nachts jagten wir zurück, es lässt sich nicht einfach fahren bei Tarnscheinwerfer.
Gestern fuhren wir u. a. über Gotha den damaligen Anmarschweg auf Erfurt. – Jede Stelle hat ihre Erinnerung.
Heute spendeten die alten Mannschaften der 1. Kp. je ¼l Blut. Immer sehr nett, diese Massenschlächtereien. Etwa acht Betten standen in dem Raum, auf jedem lag einer mit einem Schlauch im Arm. – Aber das Blut wird wohl gebraucht werden, dieses Frühjahr im Osten, ich bin nicht dabei.
Wenn ich einen Lazarettzug vorbeifahren sehe, dann kommt immer das merkwürdige Gefühl in der Magengegend. Aber wir spielen hier Soldat und lassen uns ab Montag wieder scheuchen.
Heute Mittag mussten die KOB-s im Dienstanzug raustreten, der Chef erschien und sagte, die Fahrschüler stellten sich dämlich an, wenn einer durch di Prüfung fiele, rauchte es, überhaupt wäre die Dienstauffassung der KOB-s äußerst schlecht, Montag ginge es ja los. (Es geht auch schon heute Abend los).
Leutnant Dr. Graf ist ein zackiger Knabe. Ein Offizier, wie ich ihn mir vorstelle, aber nicht in Praxis für möglich gehalten hätte. Alle, die hier rumlaufen, sind Popanze gegen ihn. Aber ich kenne ihn ja nah nicht. Druck geben wird er uns bestimmt in den sechs Wochen, die für den Lehrgang bleiben. Er kennt E.-F., erkundigt sich nach vielem sehr genau, so nach meiner Musik.
10.6.42
es ist kein Tag so schwer und heiss,
des sich der Abend nicht erbarmt
und den nicht gütig, lind und leis
die mütterliche Nacht umarmt.
Schon sehr lange muss es her sein, dass ich meine Melodie dazu schrieb, Mutter gab mir die Worte. Und damals konnte ich noch gar nichts davon wissen, wie das ist. Und doch ist sie mir so tröstlich, und die Worte habe ich wohl erfahren.
Damals war ich wohl noch ein Kind. Ich saß am Klavier und Mutter hinter mir am Tisch und stopfte. Die Lampe brannte.
Manchmal denkt man: Wenn es doch schnell ginge, bald nach Russland , und dann fallen. Dann wäre alles so klar so licht. Müsste es nicht so kommen, weil ich doch innerlich so stehe? Ist es denn möglich, dass ich nach diesem tollen Mist, nach dem ganzen Krieg, noch ein ganzes Leben lang in einer Kette von Widerwärtigen leben soll? Ein Leben noch in dem Kampf, der ja doch kein Ende hat und dann, später, vielleicht immer kleinlicher und widerwärtiger wird, und das bis zum Ende – welchem Ende! Und dann das vorsätzliche hart – machen hier. Komme ich denn noch jemals nach Hause? Nein – nie. Die sechzehn Tage, auf die ich nach dem Lehrgang hoffe, wie alle, werden mir vielleicht noch einmal rücksichtslos alles verlorene zeigen. Nie mehr, denn ich werde zu Hause nicht mehr bleiben können, geborgen wie damals.
Nach meinen genauesten Wahrscheinlichkeiten müssen wir noch 56 mal durchschwitzen im Lehrgang. Es wird manchmal unverschämt schwül, wenn man unter der Sonne rennt. Heute wälzten wir uns durch den Schlamm auf dem Exerzierplatz im Regen.
Lt. Schwarz ist zur Unterstützung von Dr. Graf gekommen. Er muss aus der dj 1.11 kommen. Bis jetzt habe ich ihn noch nicht durchschaut.
11.6.42
Tante Maria habe ich doch am Sonntag kennen gelernt. Sie hat mit etwas an Tante Mona erinnert. Wieder einmal feine Gespräche. Und wieder das Spinett. – Der Zug, den ich haben wollte, fuhr nicht, ich musste mich aufs Rad schwingen, in drei Stunden fast 60km, teils im Regen, ohne Rücklicht und mit Taschenlampe. Die Kniehosen vermisste ich bitterlich, aber der wüste Speckdeckel saß auf dem Latz – ein Landser macht zwischendurch eine tolle Fahrt!
So ähnlich wie meine 12km Klotzerei nachts nach Sonneborn, nur, um ein paar Stunden früher im Festtagsurlaub zu sein. Da war ich auch noch krank. Die Bäume schwankten so merkwürdig groß und erstaunt über den Marschierer. Und hinterher das fahle verschwindende Licht.
Heute sitze ich mal wieder im Lesezimmer, während sich die Stadt mit den vielen Türmen in Dunst und Ruhe legt. Ein Schornstein hat eine lange Rauchfahne. Die Sonne sinkt wieder tiefgelb in die Kiefern, die den Berg hinunter stehen.
In drei Wochen will Ernst-Friedrich rauf kommen. Mit EK und Sturmabzeichen. Ich kann es noch gar nicht glauben. Wie wird er jetzt aussehen? Aber es muss toll werden. Mein Bruder Schauer!
14.6.42
Immer, wenn wir als Rekruten einen Zivilisten im Kasernenbereich sahen, gingen wir ans Fenster und riefen: Ein Mensch! Manche grinsten und bestätigten: ja, ein Mensch. Wie merkwürdig: Einer, der nicht dauernd unter Druck steht, der sich anziehen kann, wie er will; ein freier Mensch! Wenn wir uns unterhielten über das nach dem Kriege, dann war es immer wieder dasselbe: – nichts mehr mit dem ganzen Kram zu tun haben, endlich mal ein freier Mann sein. Das ist ein einfacher Begriff von Freiheit, über den kein Philosoph nachzudenken braucht. Und diese Freiheit wollen wir, denn das hier ist kein Leben. – Wenn die Pauker damals sich verpflichtet fühlten, uns „ideell zu erziehen“, dann wurden sie immer so fürchterlich kindisch. (Eine heutige Prima spiegelt schon die Zeit, mit dem Haufen Jazzhengsten und lauen Brüdern, tollen Materialisten und wenigen, die aber wirklich denken.) August zitierte da in einer Ansprache das Wort“ frei sein heißt nicht, dass man macht was man will, sondern das man macht, was man soll“, eine Ausflucht für jedermann, ein ganz lauer und unwahrer Satz, ein gefundenes Fressen für große Unterdrücker. Mit lauen Worten gerade über Freiheit konnten sich „geistige“ Naturen des 19. Jhds. bombardieren, wir schmecken mehr von den sog. „Realitäten“ und kommen da auch wieder zu der Einfachheit der Vorstellungen.
Oh, das heißt noch lange nicht, dass wir Pazifisten sind, die es auf die ruhige Kugel im Kriege absehen. Ich will raus. Es ist das blödeste, jetzt einen Lehrgang von Wochen mitzumachen. Und dann ist hier so die dumme Ansicht: „Frontbewährung“ (man stelle sich vor, der Einsatz nur als die vorübergehende „Bewährung“ im Durchgangsstadium, um danach auf die Kschule zu kommen, Leutnant zu werden; so denkt man hier vom Einsatz), und die Radfahrertouren von einigen. Zackig sind diese Knaben, die Offiziere werden müssen. So ist es heute. Ein fabelhafter Kerl, E. Myl., der von der 6. Kp. kommt und mit dem ich Fahrschule machte, versucht es z. B. auf die krumme Tour, schreibt blöde Aufsätze und will, wenn er gefragt wird: „was ist eigentlich mit Ihnen los?“ sagen, dass er keine Lust hätte. Ich würde es auch so oder toller machen, wenn ich nicht anders müsste, wenn ich nur für mich leben würde.
Sonntag 21.6.42
Der Spieß saß neulich auf unserer Stube unter den KOB-s und erzählte. Da formuliert er das gewaltige Wort, als er von seinem Ufa-Lehrgang, von exerzieren und Geländeausbildung sprach. „Wir sollten ja gar nichts neues lernen, denn wir konnten ja alles schon, wir sollten nur lernen, wie lange man einen Menschen schinden kann, bevor er verreckt.“ Das trifft auf uns auch ganz gut. Flachrennen sind zahlreich, lange und tolle. Diese Woche hatten wir zwei Nachtmärsche und heute – steht Schauer wieder Wache. Daneben auch Kopfarbeit. Doch etwas feines habe ich erreicht: mit Lt. Schwarz habe ich ausgiebig gesprochen. Zwischen dem ganzen Betrieb, zwischen Unterricht und Nachtmarsch. Ich hatte ihn angesprochen, neulich schon: „Herr Leutnant waren in der 1.11? Wissen Herr Lt., wo sich Insk jetzt befindet?“ Da hatte er gesagt, er habe Insk persönlich mehrfach gesehen, als er mit 13 Jahren in dem tollen Haufen war. Dann hatte ich ihn jetzt gefragt, ob er mit etwas von Insk erzählen könne, da rief er mich dann auf sein Zimmer.
22.6.42
Heute morgen exerzieren, nur zwei Stunden aber auch gewürzt. Und heute Nachmittag Geländeausbildung, am Schluss eine kurze Stunde Schleiferei. Und wieder so toll wie selten vorher. Was kann man alles mit dem Menschen machen! Wer wollte wohl ein Tier so schinden! Ich kann wohl sagen, dass ich die Schnauze voll habe davon. Einige erzählten auf der Stube, dass sie unter der Gasmaske vor Wut geheult haben, gebrüllt „ich will nicht mehr“ – doch dann kommt wieder das verdammte „Spru-ung“…und der zusammengesackte Kadaver reißt sich noch einmal hoch. Und immer wieder. Es war anständig von Schwarz, dass er nicht irgendwelche Fehler bei der Übung vorher zum Anlass nahm, sondern sagte, es wäre notwendig. So ist es bei ihm nicht so, dass man ihn – wie die anderen Schleifer – kalten Herzens umlegen könnte. (Übrigens ist einer gekippt.)
21.6.42
kalter stahl
schimmert mat.
legst dich blank
an meine wange
und flüsterst:
„bleibe so hart und fremd hier
kann nicht binden – versöhnen
kann nur hauen und stechen
kann nur trennen – zerstören
wirke und sehe
soviel grauen und schande
und ich bin doch in mir,
bin treu und rein,
bin waffe
und manchmal ist mir wie ein fluch
immer nur waffe zu sein
zu treffen zu verletzen
wie die hand da mich führt.
nie trink ich das licht
das die schönen ringe trinken
trage nie ihre kostbaren steine –
und ich bin doch wert in mir
habe vielleicht mehr wahrheit als sie
so bin ich stolz.
du brauchst mich nicht zu entschuldigen
wir sind uns nicht untreu
wenn wir bleiben in dem das wir müssen.“
23.6.42
Jetzt ist meine Seele betrübt.
Und was soll ich sagen? Vater,
hilf mir aus dieser Stunde! Doch
darum bin ich in diese Stunde
kommen. Vater, erkläre deinen Namen!
4.7.42
Wir dachten es viel und ich sprach auch mit Arthur manchmal darüber: Es müsste etwas schönes sein, jetzt rauszukommen und zu fallen – ganz einfach. Da haben wir den ganzen Mist nicht mehr. Wäre das nicht für mich ein milder und feiner Abschluss? Wo doch alles so fragmentarisch bleiben soll bei mir; und später wird dann ja doch alles verloren gehen sollen, was mich eigentlich ausgefüllt hat, vielleicht kann man sagen „die Jugend“ denn damit hängt doch so viel zusammen.
Aber ich sehe wieder: ein Abschluss jetzt ist zu großer Widersinn, es war alles gestochert und gefitzt, was ich getan habe. Vielleicht ist alles nur durch die Beschränkung entstanden und das ist dann Verkrampfung).
Sonntag, d. 26.7 42
Vielleicht ist es schön, traurig zu sein und ist nicht alles Schöne traurig?
[1]20.8.42 Nein! Ich widerrufe. Nie auf Schwächlichkeiten und Weichheiten einlassen. Heute ist es nicht schön… Und wegen dieser Irrungen sollte ich lieber voll Wut als voll Trauer sein.
4.8.42
Nach dem dreitägigen Urlaub mit Vater und Ernst-Friedrich in Soest und nach Versetzung in die 2. Kompanie bleibt mir nur, kurz das Gewesene aufzuschreiben. Ich stehe nun wieder woanders, einen Schritt weiter, aber doch noch nicht abseits genug, um das gerade Vergangene richtig sehen zu können. Wie immer, wenn man in Fremdes kommt, fühlt man den Schmerz, dass viel Schönes vergangen ist, besonders vielleicht nach dem Urlaub.
In einer Nacht, wo Arthur über den Zaun stieg, und ich ihn zum Fenster herein zog, hatte ich vom Fenster das Bild:
aufsteigender Mond
blinzelt träg satt und giftig
rollt sich über schlanke spitzen
schwarzer tannen rot und glut.
sterne zittern weit in welten
sträucher scheuen blassen himmel.
gelb nun steigt er – weiss hinauf
bläst sein Uuh durch kalte welten.
wind saust rauschend durch die blätter
fahle fratzen leuchten grün.
Der Dr. Brake erzählte mir auf Fahrschule, dass das erste Zeichen für das Kommen des Winters sei, dass die Vogelbeeren rot würden. Wir sahen rote Vogelbeeren. – In einer der letzten Stunden mit Arthur sahen wir die Stadt unten unter Wolken und Regenseifen. Wir zogen da um die Kaserne, setzten uns an der Ecke unter der Weide auf die Bank. Als wir in der Stube waren, kam dann der Regen.
der winter dämmert –
über nassen strassen
bleicht er fern
schleicht träg und kalt.
nicht rast er heulender gewalt
den leblose stört kein schrei.
stumm tastend
stumm und stier
noch werden die farbige astern blühen,
dann leuchten die bäume saftig und tief
klar wird die luft – selten klar.
vielleicht noch werden mädchen
in hellen kleidern gehen.
Im vollen grün der bäume
Spielt rot und gelb
Wie grosse blüten
gegen dunkle wolken
stehn bleiche wände
gelber schein versinkt
hinter wehendenfetzen.
die weide rauscht auf und tastet
mit zitternden zweigen nach dir.
da weht ein blatt
und tanzt
und fällt.
20.8.42
(Heute hatte ich vor, auf Urlaub zu fahren)
Das Grablied
„Dort ist die schweigende Gräberinsel, die schweigsame; dort sind die Gräber meiner Jugend. Dahin will ich einen immergrünen Kranz des Lebenstragen.
Also im Herzen beschließend fuhr ich über das Meer. –
O ihr, meiner Jugend Gesichte und Erscheinungen! Oh, ihr Blicke der Liebe alle, ihr göttlichen Augenblicke! Wie starbt ihr mir so schnell! Ich gedenke eurer heute wie meiner Toten.
Von euch her, meine liebsten Toten, kommt mir ein süßer Geruch, ein herz- und tränenlösender. Wahrlich, er erschüttert und löst das Herz dem einsamen Schiffenden.
Immer noch bin ich der Reichste und Bestzubeneidende – ich der Einsamste! Denn ich hatte euch doch, und ihr habt mich noch: sagt, wem fielen, wie mir, solche Rosenäpfel vom Baum?
Immer noch bin ich eurer liebe Erben und Erdreich, blühend zu eurem Gedächtnisse von bunten wildwachsenen Tugenden, o ihr Geliebtesten!
Ach, wir waren gemacht einander nahe zu bleiben, ihr holden fremden Wunder; und nicht schüchternen Vögeln gleich kamt ihr zu mir und meiner Begierde – nein, als Trauende zu Trauenden!
Ja, zur Treue gemacht, gleich mir, und zu zärtlichen Ewigkeiten: muss ich nun euch nach eurer Untreue heißen, ihr göttlichen Blicke und Augenblicke: keinen anderen Namen lernte ich noch.
Wahrlich zu schnell starbt ihr mir, ihr Flüchtlinge. Doch floht ihr mir nicht, noch floh ich euch: unschuldig sind wir einander in unserer Untreue.
Mich zu töten, erwürgte man euch, ihr Singvögel meiner Hoffnungen! Ja, nach euch, ihr Liebsten, schon immer di Bosheit Pfeile – mein Herz zu treffen!
Und sie traf! Wart ihr doch stets mein Herzlichster, mein Besitz und mein Besessen – sein: darum musstet ihr jung sterben und allzu früh!
Nach dem Verwundbarsten, dass ich besaß, schoss man den Pfeil: das wart ihr, denen die Haut einem Flamme gleich ist und mehr noch dem Lächeln, das an einem Blick erstirbt!
Nietsche
Soest 2.9.42
Rembrandt malt die Heimkehr des verlorenen Sohnes.
Er weiß jetzt, dass alles verloren ist, seine Existenz, seine Jugend, Reichtum und Glanz – ach, das heißt Kultur, alles woran das Herz hing in der Zeit rauschender Feste – . Aber nun sieht er, dass er noch viel mehr verloren hat: seinen Glauben und das Bild, das seine Jugend ausgefüllt, das unmerklich verblasste und immer seltener wieder vorgeholt wurde. Ja, seinen Glauben hat er verloren. Er sah alles: „jetzt bin ich wild und jung – jetzt werde ich alt – ich habe meinen Glauben verloren!“ Genau so wie er sah, dass die Zeit der rauschenden Feste vorübergehen musste; und er wollte es oft nicht wahr haben. – Ist es nicht grausig, so zu sehen, wie die Zeit der Fülle schwindet, langsam, stetig? – Und jetzt weiß er keine Antwort mehr auf die große Frage: „Warum habe ich nicht mehr – wo ist alles hin?“ Denn er ist leer und weiß doch, w Fülle ist.
„Jetzt male ich den verlornen Sohn, denn ich muss ja heimkehren. Sieh mal – so sieht das aus. – Mich dürstet nach Heimkehr.“
„Braucht und benutzt das Bild meinetwegen, ihr Späteren. Ich brauche nicht zu sagen, dass ich euren kurzen komischen Weg nicht gehen kann. Ihr wusstet es vorher, dass ich „heimkehren“ würde; – oh, ja ich weiß wo Fülle ist, ich war selbst einmal darin. Und darum male ich es – aber glaubt ihr, meine großen Fragen seien so schnell gelöst?“
Oft war er wie ein Ertrinkender in der Leere. –
27.9.42
Damals, in der Penne, wie wir noch friedlich und oft auch sehr kämpferisch mit dem Studienassessor Böcking verhandelten, meinte er einmal so ungefähr: 2was ist der Unterschied zwischen einem Drama und dem wirklichen Leben? – – im Drama findet alles eine Lösung und im Leben löst sich nicht alles“…
Damals meinten wir noch, der Krieg, vielleicht unser Tod sei eine Lösung und unser Einsatz vielleicht eine Erfüllung (wir meinten das so flach, wir meuterten gegen vieles). Ja, dann dachten wir daran, wie wir als Soldaten nach Hause kommen, wir dachten an unseren Urlaub in der schwarzen Uniform, vielleicht noch einmal den Blick eines Mädchens, unserer Mutter. Der Krieg schien uns ein Mittel, dass wir selbst daran wuchsen, dass wir uns erhöben; er war ein Rahmen zu der schönen tragischen Novelle. Wie der Krieg ein schöner und großer Rahmen ist in C.F. Meyers Erzählung vom Schweizer Aufstieg mit dem komischen Pfaffen A v J – und in Rilkes Gedicht und nacht und fernes fahren – – und im Cornet. So dachten wir uns den Krieg.
Wie Arthur wiederkam und jedes zweite Wort Sch…. War, da sagte er auch, „ach, wir haben uns den Einsatz vielleicht vorher als Erfüllung gedacht, wenn Du nur wüsstest, wie das vorne ist. – „ „Arthur, wir dachten doch damals, Du würdest einen vor die Birne kriegen, ich habe nicht geglaubt, Dich wieder zu sehen, – Du sagtest damals: Ich will alles durchgemacht haben, auch wie das ist, wenn man stirbt.“. „Wenn Du nur sehen würdest, wie sie da vorne rumliegen, dann werden sie verscharrt, kein Mensch fragt danach. Und hier reden sie viel von Heldentod und machen großes Tamtam. Nein, so möchte ich nicht rumliegen und verfaulen.“ Ich fragte, wie denn der Kampf da wäre, es ginge alles durcheinander, auch da vorne wäre alles Beschiss. Ich wundert mich, das so viel Unsinn da gemacht würde und über den ganzen unkriegsmäßigen Kram. R sagte: „Wir beherrschen den Krieg ja gar nicht, der Krieg beherrscht uns.“
Ja der Krieg kann uns zertreten, sinnlos, sinnlos, sinnlos, was ihr alle nicht glauben könnt; und in eurer romantischen Schwäche wollt ihr immer so einen abgeplapperten Sinn, so einen Unsinn, sehen. „Wer mir noch einmal etwas von Existenzkampf oder von Pflicht erzählt, dem hau ich eine ins Gesicht.“
..Der Krieg ist gross
wer sind die Seinen
lachenden Munds..
Ulrich Degenhardt, Jungmann der national politischen Erziehungs- Anstalt, Du meintest dazu: „Frieden? – Frieden ist ja gar nicht der Normalzustand, der Normalzustand im Leben ist Krieg.“ Du meintest wohl so ungefähr dass der Frieden die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln sei, die alte Parole “alles Leben ist Kampf“. Wenn Du auch bei Rshew liegst, weiß ich nicht, ob Du immer noch den Krieg als Normalzustand ansiehst.
„Klar sieht, wer von Ferne sieht und nebelhaft, wer Anteil nimmt … , das kann vielleicht für alles gelten, nur nicht für den Krieg. Wer ihn nicht mitgemacht hat und richtig, der kann nicht darüber urteilen“ sagte E-F.
Das Ungewusste ist quellende Kraft.
Das war das Wort, was meine Jahre ausgefüllt hat. Und nach den großen Enttäuschungen wehrte ich mich gegen alles Gemachte und Gewollte und erkannte nur alles Gewachsene und Gewordene an (siehe Nietzsche Zaratustra, Spengler Gedanken). Und im Kommis sah ich, das alles gemacht ist, „von einem großen Willen gelenkt“, das alles unwahr und Betrug war, wohin man auch griff. Und ich wunderte mich, dass diese Sache einen solchen Bestand hat, „der vom alten Fritz gegründete Kommiss.“
Und dann sagte mir Nietzsche, dass nur der Schaffende das Leben hat und Spengler, dass das Wachsende, das Weibliche und das Schöpferische das Männlichste sei. Ist das wahr? Kann der Mensch überhaupt schaffen und schöpfen, oder kann er nur zerstören? Kann er vielleicht nur entdecken, hegen und wachsen lassen?
Leutnant Schwarz meinte, wie wir auf unserer Stube über Krieg sprachen: „was macht uns denn eigentlich Spaß? Aufzubauen oder zu zerstören? Mir macht das Kaputtmachen Spaß.“ (Lt. Schwarz ist ja auch ein Angeber von Lebenshaltung und ein großer Kindskopf).
Wenn ich jetzt in der Wüste bin und auch denke, in Russland komme ich in die Wüste und ich muss durch die Wüste gehen (andere nennen es Leere), dann weiß ich ja nicht: Der Krieg wird mich vielleicht zur Wüste machen. Es fällt ihm gar nicht ein, zu meiner Erziehung und zu meinem Wachstum da zu sein. Er wird das Wachstum einfach töten.
In der Wüste bin ich, wo nichts mehr gilt, wo nichts mehr wert ist. Und ich will nicht zurückdenken, zurücklieben. Ich will nicht die alten schönen Bilder dauernd ansehen und mich an alte schöne Sachen erinnern. Ich weiß gar nicht: ist es mir überhaupt ein so großer Schmerz, dass ihr mir alle so ferne steht, ihr lieben Freunde? Weil ich euch gar nicht schreibe, könnt ihr mir nicht mehr schreiben, und ich kann euch nicht schreiben Nichts kann ich euch sagen als; alles hohl, alles leer, alles Betrug und Schein.
Bewahrt die Liebe, dass uns die Wüste nicht trennt.
28.9.
und wir kauern wieder um die heiße Glut..
Wilde und große Träume, bleibt bei mir!
Macht mich wieder euch im Zwange und im endlosen Weg ins Graue.
Noch führt die große Straße ins Land, wo die Mitternachtssonne über Eisgebirge strahlt, und in das Land, wo Sonnenhitze über gelben Sand und langen rollenden Wagen liegt. Ist denn alles entweiht und veröffentlicht, wo Landsknechte die Äpfel von den Bäumen stehlen und Organisationen für irgendeinen Zweck alles gleich machen wollen? Das War es, womit ihr so vielen das bisschen Rückgrat geknickt habt, das ihr sagtet: „Seht, hier bei uns ist alles, was ihr suchtet und zu haben glaubtet“. Und auch war das alles Lüge und gefälscht.
Wenn wir noch ans Leben glauben wollen, dann nur noch, wenn wir selber leben, wenn wir noch die Sehnsucht und das Feuer haben. Aber ist nicht alles so grau und leer?
30.9.
Keiner, der den Schmerz des anderen, keiner, der die Freude des anderen versteht. Man glaubt immer, zu einander zu gehen, und man geht immer nebeneinander.
Franz Schubert, Tagb.
Aber dann ist es einmal so, dass man gar nicht zum andern will, dass man sich scheut, einem etwas zu sagen und einem die Hand zu drücken. Manch einer reißt in dieser Zeit Bande entzwei, die ihn mit dem Liebsten verbanden. Und man will die Einsamkeit auch mitten im großen Lärm.
Aber ich sehe doch, dass ich unfruchtbar werde in dieser Zeit, dass ich das große Feuer verliere? – wenn die Sehnsucht auch bleibt – aber es ist eine schmerzliche fast unfruchtbare Sehnsucht.
Ist es vielleicht, weil, man immer und immer enttäuscht wurde nach den lichten Begegnungen? Oder ist man überdrüssig der Fülle. Aber das gibt es gar nicht. Jeder Verlust und jeder Tod schmerzt.
Wie war die Zeit schön, da ich alles für mich allein hatte, weil ich es mir ganz allein errang. Die Expressionisten gehören mir ganz allein und auch die Kirchenmusik. Weil keiner verstand, was ich daran hatte. Aber Glück schien mir damals, dieses alles weiter zu geben. Nur indem ich mit meinem Freunde sah, meinte ich ganz sehen zu können. Und einen Kreis wollte ich haben, dem ich mein Eigentum weitergeben konnte. Und meinem Volk wollte ich dienen, und ich sagte „nur auf Dich kommt es an, alle Entwicklung steht still, wenn du willst“. Aber jetzt ist man in dem großen Strom, alles ist schon da und – zerstört.
Sommer 1941 – Jupp und ich lagen an der Ostsee bei Wismar. Einen Morgen war Jupp losgefahren und holte von Hohenkirchen Post. Ich hatte einen Brief von Heia, wo er schrieb. Er bekäme keinen Urlaub, er habe veranlasst, dass er aus dem Lazarett nach Russland geschickt würde. Da war er wieder, der verdammte Krieg. Heia schickte drei kleine Bilder mit, die er an einem Morgen auf dem Kynast gemacht hatte. Da fand ich Heia ganz in diesen Bildern wieder.
(Anmerkung: den von Christoph zunächst geschriebenen Satz: „Und wie traurig schienen mir diese Bilder“ hat er durchgestrichen.)
Auf der Hinfahrt zum Urlaub besuchte ich Hansel in Kassel. Es ging ihm dreckig. Wir hatten nur die paar Stunden Zeit und wussten, dass wir uns das letzte mal sahen, bevor ich nach Russland ziehe. Es war eigentlich noch viel zu (kurz) aus Hansels Briefen lag noch so manche kritische Frage und falsche Anschauung unerledigt Wir sprachen über einiges, doch ich sagte dann, ich weiß nicht wie es kam: „Unser Kreis, unsere Freundschaft ist mehr wert als alles, was um uns herum geschieht, und wir wollen uns nicht durch diese lächerlichen Fragen auseinander reißen lassen.“ Ich wusste in diesem Augenblick, dass ich vorher anders gedacht hatte. Ein Kreis ist überhaupt nur möglich, wenn man eine gemeinsame Anschauung hat. Nur von dieser Basis kann man weiterkommen, aus dem Kreis etwas schaffen. Ich war doch so verzweifelt, wenn in den Rundbriefen immer wieder die kleinen Fragen auftauchten, die das so selbstverständlich allgemein geglaubte Bild an irgendeiner Stelle anzweifelten. Und meine ganze Kraft setzte ich darein, diese kleinen Schönheitsfehler zu beseitigen. Und ich kam nicht weiter. Jetzt sage ich: Wir können uns nie ganz einigen, lass den anderen gewähren. Und mein Gefühl meint dazu: Die Liebe ist größer und alle Ereignisse in der Welt sind nicht wert, unsere Freundschaft anzutasten.
Führt diese Stellung zu der Frage: Mensch oder Gott? Wir haben es gewusst: Christus ist das Schwert, an dem sich alles scheidet. Und muss man da nicht sagen: Unsere Anschauung trennt uns. ?
Wir sind alle noch Suchende und Zweifelnde, wir tappen noch im Dunkeln. Da halten wir uns aneinander fest.
Ich fand die Bilder in großem Format bei Heia, als er E-F und mich in Erfurt besuchte. Du hast mir viel gegeben, Heia, und mir einen Schritt weitergeholfen.
„…Aber es ist nun tiefe Nacht und da soll man nicht zu viel sagen.“ Schriebst Du mir, als Du vom Lazarett nach Russland fuhrst.
Hier enden die Tagebuchaufzeichnungen. Am 16.Oktober 1942 wird Christoph Schauer an die südliche Ostfront zur 6. Armee kommandiert, er gehörte dort zum Panzerregiment 2 der 1. Kompanie der 16. Panzerdivision, sieben Wochen später gehört er zu den im Kessel von Stalingrad eingeschlossenen Soldaten. Seinen letzten Brief, der seine Eltern erreicht, schreibt er am 2. Januar 1943 „zwischen Don und Wolga“. Ein Leutnant Kemna, der als einer der letzten schwer verwundet aus dem Kessel ausgeflogen wird, berichtet dem Eltern später von dem Kampfeinsatz am 15.Januar 1943: „Ich selbst bin noch am 16.1. mit Ihrem Sohn zusammen gewesen, es ging ihm den Verhältnissen entsprechend sehr gut. Der Wagen, in dem er als Ladeschütze eingeteilt war, gehörte meinem Zuge an. Es war der einzige Wagen, der nach einem Gefecht am 16. vormittags unbeschädigt zurückfahren konnte. Da ich selbst verwundet war, wurde ich in diesem Wagen bis zum Korps zurückgefahren. Während dieser Fahrt hat sich Ihr Sohn in geradezu rührender Weise meiner angenommen, indem er mich mit ein paar Taschentüchern verband.“ Dem Bruder Albrecht Schauer gibt Kemna weitere Informationen über den Kampfeinsatz, bei dem er selbst verwundet wurde: „ … Am 10. Jan. wurde der Druck der Russen so stark, dass die Front zurückgenommen werden musste und zwar gingen wir in West – Ost zurück, d. h. auf die Stadt zu. Der Angriff war so stark gewesen, dass die Neubildung einer geschlossenen H.K.L. (Hauptkampf –linie) unmöglich wurde. Ich erhielt deshalb den Auftrag, mit Unterstützung einiger Wagen der Pz.Abt. 129 den Flugplatz Pitomnik, der am 15.1. von der Luftwaffe geräumt wurde, zu halten. Am 16.1. vormittags marschierte eine starke Kolonne des Russen über den Flugplatz auf uns zu. Wir unternahmen selbständig einen Gegenstoß, bei dem wir auf hinter der russ. Kolonne herfahrende Panzer stießen. Es bestand keine Möglichkeit für uns in Deckung zu gehen, so musste der Kampf aufgenommen werden und es wurden in kurzer Zeit 5 von meinen7 Wagen abgeschossen. Bei den 2 Wagen, die nicht beschädigt wurden, war auch der Leutnant Appel, in dem Ihr Bruder als Ladeschütze war. In diesem Wagen wurde ich dann nach meiner Verwundung zurückgebracht. Da dieser Wagen nach der Fahrt ohne jeden Betriebsstoff war, konnte er zu weiterem Einsatz nicht verwendet werden. Deshalb nehme ich mit Sicherheit an, dass die Besatzung kampflos in Gefangenschaft geraten ist. Irgendwelche näheren Angaben über die Zeit nach dem 16.1. sind kaum noch zu erwarten, da ich der letzte bin, der von dieser verhältnismäßig kleinen Kampftruppe de Pz.Reg. 2 zurückgekommen bin.“
Das ist das letzte Lebenszeichen von Christoph Schauer. Keiner dieser Kampfeinheit ist nach eventueller Gefangenschaft zurückgekehrt. Die Eltern und die Familie hat noch lange geglaubt/gehofft, dass Christoph wieder heimkehren würde, erst kurz vor ihrem Tod konnte sich seine Mutter dazu durchringen, ihren Sohn amtlich für Tod erklären zu lassen.
Der ältere Bruder Ernst-Friedrich Schauer fiel am 22. November 1943 in Krassnyj-Schliash in Russland.
Persönliche Anmerkung:
Wer wie ich zur Generation der so genannten Kriegskinder gehört, die das Geschehen nicht bewusst erlebt hat, wohl aber die Trauer insbesondere der Mütter um ihre verlorenen Söhne verbindet das Interesse am historischen Geschehen auch heute noch mit der Erinnerung an das persönliche Leid der Angehörigen um die in der Schlacht um Stalingrad und auf anderen Kriegsschauplätzen umgekommen Söhne, Ehemänner, Väter. Ich denke dabei natürlich ganz besonders an meine Tante Helga Schauer, aber auch an Olga Lange aus meinem Heimatdorf, dessen einziger Sohn, der Ehemann war im Ersten Weltkrieg umgekommen, auch zu den in Stalingrad vermissten Soldaten gehörte. Die Ungewissheit um das Schicksal ihrer Söhne hat die Mütter nicht mehr losgelassen, ihre Trauer haben sie mit in ihr Grab genommen.
(Über Tippfehler, die beim Abschreiben des Textes entstanden sind, bitte ich hinwegzulesen.)
[1] Diesen Text hat Christoph Schauer nachträglich eingefügt